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Der neue paten 3/2014
Liebe Leserinnen
und Leser,
weil Pflegekinder nicht bei ihren leiblichen Eltern leben oder aufwachsen, werden in der Sozialisation, Erziehung und letztendlich vor dem Hintergrund der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung immer wieder besondere Fragen aufgeworfen. Dass Kinder von Eltern, die in der Erziehung ausfallen, auch in fremden Familien gut aufwachsen können, ist ein unstrittiger Umstand, den die Wissenschaften anerkennen: Eltern werden nicht durch die Geburt allein zu Eltern, sondern Kinder machen sie dazu im Laufe der ersten Lebensmonate und -jahre. Die besonders prägsamen ca. ersten drei Lebensjahre entscheiden dabei darüber, ob sichere Bindungen entstehen können und ein gutes Fundament für die Zukunft gelegt wird.
Je nach Dauer und Art der Vorgeschichte benötigen viele Pflegekinder mehr Zeit, um Sicherheit in den Menschen und einer neuen Familie (wieder oder überhaupt) zu finden und sind nicht selten auf ihrem weiteren Weg leichter verunsichert, als Kinder mit Von-Anfang-An sicheren Bindungen und stabilem Fundament. Vieles läuft holprig: Schule, Freunde, Verein …
Geht es darum zu ergründen, was zu tun ist, um so „verkümmerte Pflänzchen“ wieder „aufzupäppeln“, gehen die Fachmeinungen und solche, die sich als psychologische Fachmeinungen ausgeben, weit auseinander. Allgemein anerkannt wird, dass frühe Deprivation (Mutterentbehrung) langanhaltende negative Folgen hat und sogenannte Verhaltensstörungen sich hartnäckig der Beeinflussbarkeit durch Erziehung entziehen.
Viele „Pflegekindergeschichten“ ermutigen uns aber auch. Denn die Erziehung und Bildung in der Pflegefamilie ist ein insgesamt recht erfolgreiches und ökonomisches Modell der Ersatzerziehung in der Jugendhilfe. Junge Erwachsene berichten uns hierzu sehr differenziert und geben Hinweise, welche Theorien sich bestätigen lassen und welche eher zu verwerfen sind. Die kontinuierliche Sicherung eines guten Aufwuchsplatzes hat international in der Gesetzgebung Anerkennung gefunden und ist eine notwendige Bedingung für die gelingende Identitätsentwicklung. Kein ernst zu nehmender Psychologe wiederspricht dem. Sicherheit zu gewinnen ist auch ein wesentlicher Aspekt bei der Traumaverarbeitung.
Dennoch wird die Kontinuitätssicherung nicht selten anderen Interessen oder Zielen untergeordnet. Dann wird es für Pflegeeltern schwierig und kompliziert. Pflegekinder werden sich in ihrer neuen Umgebungen mit der „alten Heimat“ oder mit der „aktuellen Heimat“ stärker identifizieren. Wenn wichtige Gruppenzugehörigkeiten – die Familie – verloren gehen, ist das psychisch ein großes Problem. Von vielen Pflegekindern wissen wir, dass die Identität in einer neuen Familie gefunden werden kann und Sozialisation dann positiv verläuft. Es gibt Fachkräfte, die deshalb diesen Weg gehen und nutzen, aber auch solche, die diesen Weg regelrecht verbauen und Anderes verlangen, mehr Wert auf die Auseinandersetzung mit der Herkunft als entwicklungsförderlich sehen. Für Pflegeeltern ist das dann eine oft schwer zu ertragende Zumutung. Der Sinn und die Ausrichtung am Kindeswohl darf und muss auch hinterfragt werden dürfen.
Bis vor kurzem glaubten wir, dass ideologische Ansichten wesentlichen Nährboden in den für vieles offenen und wenig kontinuierlichen Sozialwissenschaften finden. Neuerdings finden wir eine Priorisierung der Herkunftsfamilie in auch höchstrichterlichen Entscheidungen auf eine Art, die uns sprachlos macht. Der BGH vertritt die Rechtsauffassung, dass die Rückkehroption für Pflegekinder stets offen gehalten und damit ausnahmslos auf eine Beendigung des Pflegekindschaftsverhältnisses ausgerichtet sein muss.
Man mag sich nicht vorstellen, was dies in der Praxis bedeuten kann, wenn dieser Ansicht blind gefolgt würde, für Opfer von Mordversuchen, Misshandlung oder Vergewaltigung – denn viele Pflegekinder sind solche Opfer.
Wir hoffen, dass unsere Beiträge die Diskussion dort ermöglichen und Entscheidungen anregen, wo sie getroffen werden müssen und möchten dieses Wissen den vielen Pflegeeltern und solchen, die es noch werden wollen, nicht vorenthalten mit der Bitte, Politiker über die bestehenden Schieflagen zu informieren und Einfluss zu nehmen.
Viel Freude beim Lesen wünschen
Ihre
Susanne Schumann-Kessner
und Ihr
Christoph Malter
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